Das Thema „Musik und ihre regionale Bedeutung“ beschäftigt mich schon lange. Welche musikalischen Werke einer Region sind wesentlich und sollten erhalten und weiter bekannt gemacht werden? Welche Komponierenden waren prägend für die Musik einer Region? Lohnt es sich überhaupt, regionale Musik zu sammeln und zu pflegen? Ist es nicht besser, wenn gewisse Erzeugnisse aus Qualitätsgründen wieder in Vergessenheit geraten? Was sind qualitativ gute Werke?
Im Rahmen eines Kompensationsurlaubs, den ich vor den Sommerferien beziehen konnte, besuchte ich im Juni 2024 das Bachfest in Leipzig. Es war eine der ersten Privatreisen, die ich im völligen Alleingang geplant und durchgeführt habe. Ich habe die Freiheit, für einmal völlig unabhängig zu entscheiden, was ich in dieser reichhaltigen Kulturstadt unternehmen und besuchen will, während fünf Tagen intensiv genossen. Eines ist mir dabei einmal mehr klar geworden: Leipzig ist nicht nur eine Bachstadt, nein, sie ist eine regelrechte Musikstadt mit einer sehr reichhaltigen Tradition. Viele große Persönlichkeiten der Musikgeschichte sind in dieser Stadt ein- und ausgegangen und haben selber Zeugnis von der speziellen Leipziger Musikkultur abgelegt. Diesem Phänomen während fünf Tagen vor Ort nachzufühlen, war sehr eindrücklich für mich.
Die Auseinandersetzung mit der eigenen, musikalischen Vergangenheit wird in Leipzig sehr großgeschrieben. Diese Tradition war schon zu Bachs Zeiten sehr stark ausgeprägt und auch der Meister selber war ein großer Sammler von Musik aus der Geschichte der eigenen Familie und Blüten der Leipziger Musikgeschichte. Das herausragende Konzert des legendären „Monteverdichoirs“ am Bachfestival nahm denn auch viele Stücke aus der Zeit vor Bach auf, und präsentierte diese in unglaublich hoher Qualität. Es war eines der besten Chorkonzerte, das ich je gehört habe, und schon nur deswegen hat es sich gelohnt, nach Leipzig zu reisen.
Leipzig ist nicht Basel. Das habe ich bei meinem Besuch schon bald gemerkt. Das musikalische Selbstverständnis in der Stadt ist gerade an den Bachtagen unglaublich stark spürbar, dafür dürfte die Region vermutlich etwas weniger dicht mit Museen belegt sein. Die beiden legendären Kirchen (Nikolaikirche und Thomaskirche), das Gewandhaus und die Oper bilden gemeinsam einen prägenden, kulturellen roten Faden, dem man sich nur schwer entziehen kann.
Mozart und Bach waren meines Wissens nie in Basel und auch Felix Mendelssohn hat sich auf seiner Schweizer Reise lieber in den anmutigen Bergen der Berner Alpen aufgehalten. Ist unsere Region also musikalisch unbedeutend? Nein, bei Weitem nicht! Basels internationale musikalische Bedeutung beginnt jedoch erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts stärker anzuwachsen. Mäzene wie Paul Sacher haben damals Kontakte zu den namhaftesten Komponierenden ganz Europas gepflegt, ihnen Aufträge erteilt und die neuen Werke gesammelt. Eine Zeit lang gehörte sogar ein ersteigertes Manuskript von Johann Sebastian Bach zu Sachers Eigentum, das er jedoch später nach Leipzig verkaufte.
Während in Leipzig die Thomasschule absolute, Jahrhunderte alte Priorität in der Förderung genießt, ist das in der Region Basel anders. Die Schola Cantorum Basiliensis, die Knabenkantorei und ähnliche Institutionen wurden erst vor rund hundert Jahren oder noch weniger gegründet. Auch das Konservatorium wurde erst um die Jahrhundertwende durch Hans Huber, nachdem er ab 1870 in Leipzig studiert hatte, zur Berufsschule aufgewertet. Die Musikgeschichte ist in Basel also vor allem in jüngerer Zeit um etliches dynamischer geworden.
Es ist auf Grund der Geschichte nicht verwunderlich, dass der Umgang mit dem musikalischen Erbe in beiden Gegenden recht unterschiedlich ist. Musik ist in Leipzig seit Jahrhunderten ein kulturell unverzichtbares Standbein, das immer unabhängig von Krisen intensiv gepflegt wurde. Nach dem 2. Weltkrieg legte sich jedoch das System der Ex-DDR wie eine Glocke über die Stadt, die sich plötzlich nicht mehr mit der ganzen Musikwelt verbunden vorfand. In jüngster Zeit hat sich das stark gewandelt und Leipzig hat ein grosses Stück seiner musikalischen Eigenständigkeit zurückerlangt. Nach meiner Beobachtung konzentriert sich dabei das musikalische Geschehen etwas gar stark auf die eigene Geschichte und Tradition.
Die Region Basel hat in seiner jüngeren Geschichte eine ganz andere Entwicklung durchgemacht. Viele musikalische Inputs wirken in einem immer internationaleren Umfeld von außen auf die hiesige Kultur ein. Die Kunstbereiche sind in allen großen Institutionen (Theater, Orchester, Hochschulen) stark international geprägt und verfügen über ein extrem hohes Niveau. Die Orientierung an der eigenen regionalen Geschichte fällt dabei zunehmend schwer, oder verliert in diesem Umfeld an Stellenwert. Dies lässt sich auch daran beobachten, dass regional orientierte Musikkultur wenig Beachtung und Fürsprecher findet und in ganz verschiedene Szenen und Bewegungen zersplittert ist.
Ich versuche aktuell, Unterstützung für die Entwicklung einer fachlich fundierten Herausgabe der Volksliedkantate von Hugo Dudli zu finden. Sie wurde für die Knabenkantorei Basel für eine Konzertreise in die USA im Jahre 1993 geschrieben und ist seit her fester Bestandteil des regionalen Chorrepertoirs geblieben obwohl Hugo Dudli schon länger verstorben ist. Es ist eher schwierig, dafür Unterstützung zu finden und institutionelle Geldgeber reagieren in diesen Fällen immer ähnlich mit: Schick uns mal ein Konzept…Wie würde die Reaktion wohl in Leipzig ausfallen?
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