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Autorenbildjuergsiegrist

Die unermüdliche Macherin

Aktualisiert: 31. Dez. 2020



Es gibt Menschen, die über eine schier unerschöpfliche Lebenskraft verfügen. Ein solcher Mensch war für mich die Mutter meines Vaters. Aufgewachsen im Mühletal nahe bei Zofingen verlor sie schon sehr früh ihre Eltern und war im Alter von 13 Jahren bereits Vollwaisin. Eine Tante übernahm das Warengeschäft der Mutter und nahm die beiden Kinder in Obhut. Sie soll nicht sehr gut zu ihnen gewesen sein. Trotz guter schulischer Leistungen verbrachte meine Grossmutter am Ende der Schulzeit ein Welschlandjahr und arbeitete anschliessend als Bedienstete in verschiedenen Familien. Eine höhere Ausbildung war trotz Intelligenz schlicht nicht denkbar. Bei der Arbeit in der Posamentenfabrik in Zofingen lernte sie dann ihren zukünftigen Mann Ernst kennen. Im Jahre 1933 heirateten sie und gründeten einen eigenen Hausstand. In der Vorkriegs- und Kriegszeit brachte sie vier Kinder zur Welt. Sie war mit ihnen oft alleine zuhause während ihr Mann Aktivdienst leisten musste. Interessanterweise hat sie vom 1. Weltkrieg und der "Spanischen Grippe", die sie als einschneidende Ereignisse Anfangs des 20. Jahrhunderts auch mit erlebt haben muss, nie viel erzählt. Überhaupt erfuhr ich Details ihres schwierigen, frühen Lebens erst anhand eines kleinen biografischen Büchleins, das sie in hohem Alter geschrieben und mein Cousin später abgetippt hat. Wirklich besser für die ganze Familie wurde es erst nach dem zweiten Weltkrieg und mit dem Wegzug in die Region Basel (siehe "Mein Grossvater der Pionier").

Als ich im Jahre 1974 zur Welt kam, war meine Grossmutter bereits über sechzig Jahre alt und wohnte als Witwe mit uns im Zweifamilienhaus, das mein Vater nach dem Tod des Grossvaters für sie und unsere Familie in Muttenz gebaut hatte. Jeden Morgen fuhr sie bis ins hohe Alter mit meinem Vater in den gemeinsamen Familienbetrieb und kam erst Abends wieder zurück. Sie freute sich über ihre Enkelkinder, unterstütze sie, hörte mir regelmässig beim Klavierspielen zu und kaufte mir beispielsweise eines Tages unverhofft ein Elektropiano, das immer noch in der Wohnung der Eltern steht und einmal im Jahr beim Weihnachtsfest noch immer zum Einsatz kommt. Auch im höheren Alter verfolgte sie unterschiedlichste Aktivitäten. So nahm sie bei einem Schüler des Kunstmalers Robert Moos Malunterricht, engagierte sich im Frauenchor als Aktuarin, schnitt die Rosen im Garten, war wie viele Grossmütter leidenschaftliche Leserin von Klatscheftlis und Kitschromanen und somit eine gute Kundin von Reader‘s Digest und Fan des Englischen Königshauses. Auch in hohem Alter besuchte sie zum hohen Erstaunen einiger jüngerer Zuschauerinnen und Zuschauer noch alleine ein Konzert der Sängerin Whitney Houston. Meine Grossmutter hat sich wenig beklagt. Natürlich gab es da und dort familiäre Spannungen. Sie ist Konflikten jedoch eher genügsam aus dem Weg gegangen. Eine Haushälterin besorgte regelmässig den Haushalt, der ihr nicht so wichtig zu sein schien. Dafür kaufte sie gerne exklusive neue technische Geräte. So hatte sie einen der ersten Fernseher mit Teletext (für diese Geschichte wurde ich in der Schule fast verprügelt) oder kaufte sich eine B&O Stereoanlage. Da wir in der unteren Wohnungen selber keinen Fernseher hatten wurde Grossmutters Wohnzimmer immer wieder mal zum sozialen Treffpunkt (siehe "wo hört der Spass auf?") unserer Familie.

Die Arbeit war zeitlebens ein wichtiger Inhalt in Grossmutters leben. Eines Morgens stand sie jedoch nicht wie gewohnt auf; später mussten wir feststellen, dass sie einen Schlaganfall erlitten hatte. Mit über 80 Jahren konnte sie plötzlich weder richtig sprechen noch laufen. Nun kam der Teil ihres Lebens, der mich besonders beeindruckt hat. In nur wenigen Jahren stemmte sie sich im Altersheim gegen die Beeinträchtigungen und lernte in kurzer Zeit neu sprechen, schreiben und auch laufen. Bis zu diesem Moment hätte ich nicht gedacht, dass ein alter Mensch noch derart viel wieder neu erlernen kann. Im Gegensatz zur Mutter meiner Mutter (Grossmutters Tod) blieb sie geistig aktiv und fit bis sie eines Tages im Sommer nach längerem Ringen starb.

Sie war eine schwer geprüfte, unermüdliche Macherin. Ich habe sie bis heute in einer respekt- und liebevollen Erinnerung behalten. RIP



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