Sie ist eine absolute Legende der Musikgeschichte; die Matthäuspassion von Johann Sebastian Bach. Gross angelegt mit zwei Chören, zwei Orchestern und zahlreichen Solistinnen und Solisten nimmt sie eine Sonderstellung in Bachs Werken ein. Felix Mendelssohn hat sie im 19. Jahrhundert wiederentdeckt und seither sind zahllose Aufführungen dieses Monuments über die Bühne gegangen.
Aber was heisst hier Bühne. Die Matthäuspassion gehört als Oratorium eigentlich in eine konzertante Kirchenaufführung. Dieses Oratorium auf eine Theaterbühne zu stellen, ist eher ungewöhnlich. Genau das hat Benedikt von Peter in der jüngsten Produktion am Theater Basel getan. Das Werk wird jedoch nicht nur vom sonst üblichen professionellen Ensemble des Theaters aufgeführt, sondern es werden wie in einer Art «Passionsspiel» Kinder eingesetzt, die die Handlung im Zentrum des Geschehens mit den Solistinnen und Solisten gemeinsam darstellen.
Die Geschichte der Passion ist eine Leidensgeschichte. In der Basler Inszenierung wird denn auch das Leiden des Menschen in seiner Lebenszeit herausgearbeitet und weniger der christliche Kontext ins Zentrum gestellt. Eingeblendete Übertitel zu den Themen Nächstenliebe, Demut und Verzicht verstärken und illustrieren die menschlichen Affekte, die bereits von Bach im 17. Jahrhundert musikalisch stark herausgearbeitet worden sind. Sie zeigen auf, dass das Werk in gewisser Weise als Kunst zeitlos geblieben ist und nichts an Aktualität verloren hat.
Auch wenn in den letzten Jahren die historische Aufführungspraxis einen starken Auftrieb erfahren hat, verzichtet das Theater Basel dieses Mal darauf, diesem Kanon zu folgen. Es spielt das Sinfonieorchester Basel im Stimmton 440 Hz. Die Solistinnen und Solisten und der Chor stammen aus dem eigenen Haus. Wer den Klang historischer Aufführungspraxis schätzt und sucht, wird ihn in dieser Aufführung teilweise vermissen. Es ist jedoch trotzdem erstaunlich, wie schlank der Gesamtklang in gewissen Momenten daherkommt. Bei einzelnen Chören wirkte er teilweise aber dann doch etwas gar dick.
Die Basler Matthäuspassion will ein kollektives Erlebnis schaffen. Die Chöre sind im Zuschauerraum verteilt platziert, die Bühne steht im Zentrum des Geschehens. Die Passion wird somit als gemeinsames Ritual verstanden. Eingeladene Laienchöre werden bei jeder Vorstellung um die Zentralbühne platziert, um diesen Effekt noch zusätzlich zu verstärken. Auch das Publikum wird teilweise zum Mitsingen eingeladen, dürfte damit jedoch meist seine liebe Mühe haben.
Die Koordination im Raum ist bei einer derartigen Aufstellung nicht immer ganz einfach. Dementsprechend hat es ab und zu mal gewackelt in den teilweise recht komplexen, polyphonen musikalischen Strukturen.
Das Bild, dass Kinder für einmal im Zentrum stehen, ist schön und berührend. Die Unversehrtheit der Kinder schärft die Wahrnehmung der Zuschauer auf das eigentliche Geschehen und hält der Erwachsenenwelt in gewisser Weise einen Spiegel vor. Gleichzeitig sind die Kinder auch in ein Kunstwerk eingebunden, das sie auf diese Weise neu entdecken können und je nach dem auch verstehen lernen.
Ist eine derart schwierige Geschichte jedoch für Kinder überhaupt zumutbar? Es sieht zumindest an diesem Abend ganz danach aus. Sie spielen nämlich das Stück mit erstaunlicher Reife und Ruhe. Die Verantwortung zur Menschlichkeit und die Gefahr, sich als Gruppe menschenunwürdig zu verhalten, wird durch das Spiel der Kinder stärker fassbar. So leiden wie wir alle an unserem regelmässigen Scheitern, uns für echte humane Werte voll einzusetzen. Der Abend endet eher überraschend mit kritischen Fragen der Kinder an unsere heutige Gesellschaft. Für welche Leiden und Opfer sind wir nun verantwortlich?
Der moralische Weg, den die Basler Inszenierung damit geht, ist am Schluss etwas irritierend. Es scheint fast, als werden die Kinder für Moralapostel instrumentalisiert und sie zeigen mit den Fingern derart auf das Publikum, dass einem in gewisser Weise der Kloss im Hals stecken bleibt. Wo sind die humanen Werte in unserer Gesellschaft geblieben? Hilft es jedoch wirklich, uns an einem derart harten, fast apokalyptischen, selbstzerstörerischen Massstab zu messen? Wäre nicht Verzeihung und Mut zur Unvollkommenheit ein erlösenderer, humanerer Weg gewesen, mit der Botschaft dieser Passion aktuell umzugehen? Die Musik Bachs klingt zumindest für mich persönlich versöhnlicher als es die Basler Inszenierung tat. «Ruhe sanfte, sanfte Ruh» gibt den Schluss unausweichlich vor; alles andere kann meinetwegen, müsste aber nicht unbedingt sein.....
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