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Jürg Siegrist

Was ist eigentlich ein Chor?


Kürzlich hatte ich mit einer Kollegin und einem Kollegen, die ebenfalls im Kultursektor tätig sind, eine spannende Diskussion. Beide interessieren sich aus beruflichen Gründen für das Singen, stehen jedoch der Chorszene nicht sehr nah. Während des Gesprächs sagte die Kollegin: "Weisst du, ich singe auch in einem Chor. Eigentlich ist es gar kein richtiger Chor, eher eine Ansammlung von Individuen.“ Das Gespräch drehte dann plötzlich in eine andere Richtung, der Satz ist jedoch bei mir hängen geblieben. Offensichtlich besteht für gewisse Menschen in der heutigen Gesellschaft ein Unterschied zwischen einem Chor und einer singenden Ansammlung von Individuen. Diese Beobachtung war neu für mich und gibt mir echt zu denken. Warum?

Der Begriff „Chor“ ist für mich persönlich absolut neutral besetzt. Eine Gruppe von Sängerinnen und Sängern, die gemeinsam ein Lied singen, ist für mich ein Chor. Dabei müssen nicht einmal zwingend alle Stimmen mehrfach besetzt sein. Ursprünglich wurde der Begriff auch für Instrumentalensembles verwendet und erst später für Singgruppen eingesetzt. Der Chor ist wahrscheinlich auch heute noch die häufigste Form, in der Menschen zum Singen zusammenfinden. Dabei ist mir persönlich egal, ob sich die Gruppe dabei selber Chor nennt oder nicht. Ein Orchester nennt sich auch Orchester und niemand käme dabei auf die Idee, dass dieser Begriff veraltet sein könnte.

Nun scheint es jedoch vermehrt so zu sein, dass der Begriff Chor als soziale Gruppierung gesellschaftlich weniger akzeptiert und geachtet ist als früher; zumindest bei sagen wir mal stark individualistisch geprägten Teilhaberinnen und Teilhabern unserer Gesellschaft. Diesem Phänomen konnte ich schon mehrfach in meiner täglichen Arbeit begegnen. Ein Manager einer renommierten Firma sagte mir nach einem Konzert: "Wissen Sie, als ich auf dem Programm sah, dass ein Chor auftreten wird, war ich recht skeptisch. Ich konnte ja nicht wissen, dass es dann so ein Chor sein wird.“ Für uns war das natürlich ein riesiges Kompliment. Aber auch diese Geschichte zeigt, dass es um die Anerkennung des Chorsingens in unserer Gesellschaft nicht wahnsinnig gut bestellt ist. Wenn es dabei soweit kommt, dass sich singende Gruppierungen nicht mehr als Chor bezeichnen möchten, obwohl sie genau das sind, nur um nicht das Gefühl haben zu müssen, zu einer teilweise etwas verstaubten Gruppierung der Musiklandschaft zu gehören; wo führt das denn noch hin? Blasmusiken wollen plötzlich keine Blasmusiken mehr sein, Chöre keine Chöre, Orchester keine Orchester und Theater keine Theater....Sänger nennen sich neu Stimmperformer und Dichterinnen plötzlich Slampoetinnen....

Persönlich hänge ich nicht am Name „Chor“. Mir ist eigentlich egal, ob sich eine singende Gruppierung Staedtlisingers, Ensemble Aurora, Covergoofe oder Singstimmen nennt. Chöre sind sie alle, genauso wie Orchester Orchester sind und hoffentlich als Grundbegriffe musikalischer Gruppierungen noch lange erhalten bleiben werden.


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