Vor mehr als einem Jahr ist der Krieg in der Ukraine unerwartet ausgebrochen und es konnten damals viele Menschen fast nicht glauben, dass es in Europa effektiv wieder zu kriegerischen Auseinandersetzungen kommen konnte. Das Leid der zivilen Bevölkerung im Land ist seit dem Kriegsausbruch unermesslich gross und es gab daher schon bald Projekte, die sich um die Linderung dieser Tragödien bemühten. Benefizkonzerte wurden organisiert, Unterstützungsprojekte aus dem Boden gestampft und wo immer möglich humanitäre Hilfe geboten. Sehr spontan veranstalteten damals beispielsweise die Gymchöre Liestal und Muttenz ein Benefizkonzert nach einer gemeinsamen Probe und konnten damals schon einen grossen Geldbetrag für die Ukraine sammeln.
Gestern, ein Jahr später, fand nun wieder ein Benefizkonzert, diesmal mit den singstimmen baselland und dem Knabenchor Mukatschewo, der aus einer Stadt, nahe der Grenzen zur Slowakei, Polen, Ungarn und Rumänien in der Oblast ganz im Westen der Ukraine stammt, statt, an dem ich aktiv beteiligt war. Die Knabenkantorei Basel, quasi «mein Mutter- oder Vaterchor», hatte den Chor sehr kurzfristig eingeladen und mehrerer Benefizkonzerte in der Region auf die Beine gestellt. Als die Anfrage vor etwa vier Wochen an mich gelangte, in Liestal an einem der Benefizkonzerte des Chors mitzuhelfen, habe ich keinen Moment gezögert und auch die singstimmen baselland sind sehr rasch und unkompliziert in das Projekt miteingestiegen.
Niemand wusste damals genau, was passieren würde. Wie viele Leute würden kommen? Kann der Chor wirklich ausreisen? Die Knabenkantorei musste für die Männerstimmen des ukrainischen Chors eigens Gesuche einreichen, damit diese trotz Militärtauglichkeit an der Reise teilnehmen durften. Die reformierte Kirche Liestal stellte ihre Räumlichkeiten zur Verfügung, die gestern vom Chor inklusive Döggelikasten und Kaffeelokal rege genutzt wurden. Es wurden Medienberichte für die regionalen Zeitungen verfasst. Jede und jeder versuchte kurzfristig möglichst gute Voraussetzungen für das Konzert zu schaffen.
Schon das erste Konzert in Basel am letzten Freitag war sehr gut besucht. Würde sich das in Liestal wiederholen lassen? Ich war da eher skeptisch…. Eher überraschend war dann jedoch gestern auch die Stadtkirche in Liestal sehr gut gefüllt. Viele ukrainische Flüchtlinge waren anwesend und die Menschen zeigten starke Anteilnahme an der enorm schwierigen Situation des kriegsgeplagten Lands.
Das Konzertprogramm des Gastchors war ausgesprochen vielfältig. Begonnen mit einigen traditionellen ukrainischen geistlichen Chorwerken wurden auch Werke von Bach und Mozart gesungen, Volksliedbearbeitungen in verschiedenen Besetzungen erklangen und auch Poparrangements durften nicht fehlen. Der Knabenchor Mukatschewo ist ein regelrechter Familienbetrieb. Beide Eheleute dirigierten den Chor und auch die Kinder und Grosskinder der Chorleitung waren neben und auf der Bühne präsent. Einer der jüngsten Sprosse der Familie dirigierte teilweise wacker auf den Armen seines Grossvaters mit, der die Chorschule als sein Lebenswerk über Jahrzehnte aufgebaut hat.
Viele Lieder des Programms zeugten von einem starken nationalen Bezug zur Ukraine. Neben der ukrainischen Nationalhymne gab es noch unzählige andere Lieder, die national als Heimatlieder im Land beliebt und bekannt geworden sind. Diese Art von Literatur ist interessanterweise in einem Land wie die Schweiz eher umstritten, da in vielen Kreisen bei uns so etwas wie Nationalstolz nicht mehr stark gepflegt wird. Wie wäre es jedoch, wenn plötzlich die Schweiz in ihrer nationalen Existenz gefährdet wäre?
Der Krieg in der Ukraine lässt mich in vielen Situationen eher hilflos zurück. Alte Geschichten werden willkürlich aufgewärmt und instrumentalisiert, um Gewalt, Terror und Leid zu legitimieren. Das schockiert mich zutiefst und ich bin dankbar, in einem Land zu leben, wo Friede und Freiheit als wertvolles Gut gepflegt und gelebt werden.
Nach dem Konzert haben die Singstimmen die jungen Männer und Knaben im Kirchgemeindehaus verpflegt. Praktisch alle gebackenen Köstlichkeiten waren am Schluss aufgegessen und wir konnten zufrieden beobachten, wie die Sänger so etwas wie einen weiteren guten normalen Moment geniessen konnten. Eine Ukrainerin hat mir erzählt, dass ihr Ehemann bald im Diensturlaub einige Tage in die Schweiz kommen darf. Das zeigt doch, es ist trotz allem immer doch noch so etwas wie «normales Leben» in der Ukraine möglich. Das macht Hoffnung….
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