Weihnachten 2025: Es ist, was es ist…oder göttliche Fügung?
- juergsiegrist
- vor 1 Tag
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Musik hat schon seit Jahrtausenden die Eigenschaft, Menschen in Einklang mit ihrer Welt zu bringen. Mit ihrer Hilfe können wir unsere Gefühle und Gedanken in Verbindung mit Klang und Gestaltung reflektieren. Seit Jahrhunderten wird daher Musik auch in religiösem Kontext verwendet und besitzt dort eine grosse Bedeutung. In vielen Kompositionen älterer Zeit wurde Musik richtiggehend als Opfergabe an eine göttliche Instanz verstanden und der Aufwand, seine Kunst in möglichst hoher Qualität und großer Hingabe auszuüben, war gerade bei Komponisten wie Johann Sebastian Bach unermesslich hoch. In vielen Kompositionen haben Komponierenden teilweise auch symbolhafte Zeichen versteckt und versucht, auf diese Weise dem Göttlichen etwas näher zu kommen. Symbolhafte Zeichen gibt es viele. Spezielle Tonarten, Tonfolgen, rhythmische Folgen bis spezielle Codes von Namen und religiösen Erscheinungen.
Welche Bedeutung hat in diesem Zusammenhang der Ton „Es“? Die Tonart Es-Dur wird von vielen Komponierenden als warm, kraftvoll und andächtig beschrieben. Der Musiker und Autor Christian Schubart hat Es-Dur als Tonart „der Ton der Liebe, der Andacht, des traulichen Gesprächs mit Gott; durch seine drey B, die heilige Trias ausdrückend“ beschrieben. Mit seinen drei Bs entspricht Es-Dur also im christlichen Kontext der christlichen Einheit von Vater, Sohn und heiligem Geist. Hier haben wir sie wieder, die religiöse Zahlensymbolik und Mystik, die ich im Zusammenhang mit der Analyse von Kirchenmusik immer wieder angetroffen habe. Das Wort „Es“ wird im deutschen Sprachgebrauch als Sachobjekt, das weder männlich noch weiblich ist verwendet und wird oft auch für die Beschreibung von Wetterereignissen wie z. Bsp. „es schneit“ oder „es regnet“ verwendet, die man sich in alter Zeit nicht erklären konnte. Wenn also im Lied „Es ist ein Ros entsprungen“ am Anfang das Wort „Es“ steht, kann das durchaus als mystisch, unerklärbar oder geheimnisvoll verstanden werden.
Nun ist vieles in der Kirchengeschichte alles andere als mystisch. In Namen der Kirche wurde gemordet und Kriege geführt. Auch heute kann man täglich von religiösen Spannungen lesen, die in der ganzen Welt die Menschen vor schwierige Herausforderungen stellen. Es ist wie so oft die politische Dimension, die Religion zu einem Machtinstrument werden lässt und sie von ihrer eigenen Kernidee entfremdet. Für die menschliche Unzulänglichkeit, philosophische Themen, die in vielen Weltreligionen zur Genüge vorhanden sind, gewinnbringend und konstruktiv einzusetzen, gibt es unzählige Beispiele, die nachdenklich stimmen. Und so hadere ich gerade auch in der Weihnachtszeit immer wieder mit meinen eigenen, religiösen Wurzeln, die mich andererseits vor allem auch musikalisch sehr stark geprägt haben. Davon habe ich auch in älteren Blogs immer wieder geschrieben. (Link)
Somit stehe ich heute in der katholischen Kirche Muttenz und leite das Weihnachtskonzert unseres grossen Schulchors am letzten Schultag. In diesem Jahr ist unser Programm etwas anders ausgerichtet als in anderen Jahren. Auf meine Initiative hin haben wir mit dem Kammerchor Werke des deutschen Komponisten Michael Prätorius einstudiert. Diese Lieder sind gekennzeichnet von der noch jungen Reformation in einem vom Humanismus geprägten kirchlichen Umfeld. Viele Melodien sind bis heute bekannt geblieben und von den Nazis teilweise auch schändlich missbraucht worden. Gleichzeitig sind sie auch Teil meiner Kindheit, da ich sie im Chor an Kirchenanlässen und in der Familie in der Weihnachtszeit regelmäßig gesungen habe. Ich wusste anfangs nicht, wie die jungen Menschen auf diese Lieder reagieren würden. Könnten sie diese als verstaubt und langweilig empfinden? Mit Hilfe des professionellen Instrumentalensembles auf alten Instrumenten verstreute sich diese Befürchtung zum Glück jedoch rasch. Die Sätze klangen mit ihrer Hilfe innerlich bewegt, ja gar tänzerisch und waren alles andere als langweilig, wenn man sich auf den Klang der alten Musik einlassen konnte.
Ich bin abgeschweift.. Es steht jetzt ja im Konzert ein ganz anderes Tanzlied auf dem Programm. Es ist „Tana Solbici“ unser Chorlied aus Slowenien, das wir im Sommer mehrfach mit viel Freude aufgeführt haben. Passt das in dieses Weihnachtsprogramm?
Gerade als ich das Stück anstimmen will, beginnen die Kirchenglocken zu läuten. Es ist Punkt 12.00; die Tagesmitte. Zu dieser Zeit läuten die Glocken der Kirche seit Jahrzehnten Tag für Tag. Regelmäßig ist von Menschen zu lesen, die Kirchenglocken vor allem abends als störend empfinden und am liebsten abschaffen möchten. Mich stören die Glocken im ersten Moment auch, auch wenn es nur eine Glocke ist. Wie sollen wir zu dieser Glocke unser „Tana Solbici“ anstimmen? Das dürfte wohl schwierig werden…und dann geschieht es:
Ich gehe zum Klavier und drücke das „Es“. Der Zufall will es, dass die Kirchenglocke gerade auch in „Es“ läutet. Dieser Moment ist unerwartet für mich. Die Glocke schlägt genau im Grundton der Tonart von Tana Solbici. Nicht als Störung, sondern als Fundament. Der Raum oder die ganze Welt selbst scheint in diesem Moment für mich mitzusingen. Ich spüre, wie sich eine tiefe Berührung einstellt, Tränen steigen mir in die Augen. Nicht aus Unsicherheit, sondern aus der Erkenntnis, dass wir nicht immer Urheber dessen sind, was geschieht. Manches trägt uns, bevor wir handeln. Manches ist gegeben und nicht bewusst beeinflussbar.
In einer Zeit, in der Kirche oft als Ort von Macht, Dogma und Konflikt erfahren wird, zeigt dieser Moment besondere Ambivalenz. Die Glocke fordert keinen Glauben ein. Sie ist einfach Klang. Präsenz. Sie ist einfach da. Sie war schon vor hunderten von Jahren einfach da und stellt keine Fragen. Musikalisch ist es konkret: ein Grundton, ein Halt, ein Ursprung, ein „Es“, wie wir es schon unzählige Male gesungen haben. Ontologisch bleibt es offen: Ist es Zufall? Ist es Notwendigkeit? Oder etwas, das sich unserer Unterscheidung entzieht?
Die Frage nach der Fügung ist letztlich eine Frage nach unserem Verhältnis zur Welt. Glauben wir, dass alles verfügbar, erklärbar und beherrschbar ist? Oder lassen wir zu, dass uns etwas begegnet, ohne sich rechtfertigen zu müssen? Ich weiß nicht, was dieser Moment ist. Ich weiss auch nicht wirklich, warum er mich derart berührt hat. Aber ich weiß, dass er etwas zeigt: dass Sinn nicht immer gemacht wird, sondern auftaucht. Dass Bedeutung nicht immer geplant ist, sondern widerfährt. Vielleicht ist das Es genau dieser Widerfahrenscharakter des Lebens. Nicht Antwort, nicht Beweis, nicht Trost – sondern Gegenwart. Es ist, was es ist. Und manchmal liegt darin die tiefste Wahrheit und Fügung.



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