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Von der Wissenschaftlichkeit des gymnasialen Musikunterrichts

Aktualisiert: 29. Sept.

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Kürzlich fand im Kanton Baselland der Unitag statt. An diesem Tag können Schülerinnen und Schüler der Baselbieter Gymnasien Vorlesungen an der Universität besuchen und sich Gedanken darüber machen, was sie später einmal studieren möchten. In diesem Zusammenhang frage ich jeweils nach, welche Vorlesungen sie besucht haben. Dieses Mal waren einige meiner Schülerinnen und Schüler in einer musikwissenschaftlichen Vorlesung, und ich erkundigte mich, wie sie diese erlebt hätten. Nicht zum ersten Mal antworteten sie, die Vorlesung habe sich nicht wesentlich vom gymnasialen Musikunterricht unterschieden: Inhaltlich sei es um nichts anderes als um die bereits besprochene Sonatenhauptsatzform gegangen.

Während meiner Studienzeit musste auch ich einige musikwissenschaftliche Vorlesungen besuchen. Ich erinnere mich noch gut, wie ich mich in einer Pause an ein Cembalo stellte, das am Rand des Raumes stand, um die Generalbassnotation des soeben behandelten Werks nachzuspielen. Daraufhin meinte der Dozent: „Schon noch toll, wenn man einen Generalbass auch wirklich spielen kann.“ Die Verbindung von Theorie – oder, wenn man so will, Wissenschaft – und Praxis war schon damals einer der Gründe, weshalb ich mich vor dreißig Jahren entschlossen habe, Musik zu studieren. Auch heute fasziniert mich die Verbindung von explizitem Wissen und impliziter Fähigkeit im Fach Musik noch immer.

In den vielen Jahren meines Unterrichtens musste ich jedoch immer wieder beobachten, dass dem Schulfach Musik die Wissenschaftlichkeit teilweise abgesprochen wird. Aktuell gibt es sogar eine vom Nationalfonds finanzierte Studie der Fachhochschule Nordwestschweiz zum Thema: „Gymnasialer Musikunterricht als Spiegel einer praxisbasierten Didaktik. Wissensordnungen in einem Schulfach ohne wissenschaftliche Disziplin und diskursiv konturierte Fachdidaktik“. Ich frage mich, ob die Autorinnen und Autoren dieser Studie jemals die Lehrpläne des Musikunterrichts im Kanton Baselland gelesen haben.

Dort sind seit jeher explizit wissenschaftliche Inhalte formuliert, die sich eindeutig nicht nur auf Musikpraxis, sondern auch auf musikwissenschaftliche Themen beziehen. Das ist unter anderem ein Grund, weshalb ich es nicht für richtig halte, die Wahlpflichtfächer Musik mit dem Grundlagenfach Bildnerisches Gestalten gleichzusetzen. Im Lehrplan des Kantons Baselland umfasst BG seit Jahren fast ausschließlich praktische Gestaltungstechniken, während im Musikunterricht die sogenannten „theoretischen Inhalte“ nicht selten dazu führen, dass das Fach abgewählt wird. Musik erschöpft sich im gymnasialen Kontext eben nicht in der allgegenwärtigen Unterhaltungsmaschinerie, sondern versteht sich als Fach mit gesellschaftlichem und historischem Kontext. Nach ein bis zwei Jahren Unterricht erkennen das zum Glück auch die meisten Schülerinnen und Schüler.

Der Nimbus des „Unwissenschaftlichen“ rührt nach meiner Beobachtung nicht vom Fach Musik her, so wie es seit jeher – oder spätestens seit den großen Philosophen – am Gymnasium unterrichtet wird. Vielmehr entspringt er einer gesellschaftlichen Haltung, in deren Folge Musik samt ihrer medialen Verbreitungsmöglichkeiten, technischen und wirtschaftlichen Entwicklungen zunehmend als bloßes Konsumgut betrachtet wird, über das man nicht weiter, geschweige denn wissenschaftlich, nachdenken müsse. Gerade deshalb scheint es mir wichtig, dass am Gymnasium eine kritischere, im besten Sinne wissenschaftlichere Haltung entwickelt werden kann.

Wer sich als Musiklehrperson im Kanton Baselland an die Lehrpläne hält, kommt schon heute nicht darum herum, auch wissenschaftliche Inhalte in den Unterricht einzubeziehen.

Auf Wikipedia wird Wissenschaft wie folgt definiert:


„Die Wissenschaft ist ein System der Erkenntnisse über die wesentlichen Eigenschaften, kausalen Zusammenhänge und Gesetzmäßigkeiten der Natur, Technik, Gesellschaft und des Denkens, das in Form von Begriffen, Kategorien, Maßbestimmungen, Gesetzen, Theorien und Hypothesen fixiert wird.“


Wenn ich also im Musikunterricht Akkorde, Blues, Schönberg, Avantgarde, Tonarten, Barockmusik, Rhythmen, gesellschaftliche Zusammenhänge, Stimmqualitäten, Stimmungen, Instrumente, Partituren und vieles mehr bespreche, geschieht dies zwangsläufig in wissenschaftlicher Form. Anders geht es gar nicht – und laut Lehrplan muss es auch so sein. Warum dem gymnasialen Musikunterricht heutzutage von Fachhochschulen dennoch die Wissenschaftlichkeit abgesprochen wird, entzieht sich meiner Kenntnis.

Ist es vielleicht das Vorgehen einer Institution, die die Wissenschaftlichkeit für sich beanspruchen möchte? Was ist überhaupt Wissenschaft? Und wer definiert das? Sicher nicht nur die Fachhochschule Nordwestschweiz – und auch nicht der Schweizer Nationalfonds.


 
 
 

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