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Von Prüfungskulturen und Mittelschulzugängen

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Seit ich Schulratspräsident bin, nehme ich von Amtes wegen an den Schulratspräsidienkonferenzen teil, die regelmässig im Landratssaal stattfinden. Es ist für mich spannend zu beobachten, wie bildungspolitische Anliegen in schön formulierte Informationsblöcke verpackt aufs Tapet gebracht werden.

In den Zeitungen wird häufig berichtet, dass bis zu 25 Prozent der Lehrverträge wieder aufgelöst werden müssen. An den Mittelschulen tauchen seit neuester Zeit vermehrt auch Lehrabbrechende auf – ein Phänomen, das ich früher in diesem Ausmass nicht angetroffen habe. Die Bildungsdirektion beschränkt sich in den erwähnten Konferenzen jeweils darauf zu bemängeln, dass zu viele Schülerinnen und Schüler die Mittelschulen abbrechen würden. Lehrabbrüche hingegen werden mit keinem Wort erwähnt. Mit demselben Argument wurde in letzter Zeit der Zugang zu den Mittelschulen verschärft, indem die notwendige Gesamtpunktzahl im Abschlusszeugnis der Sekundarschule heraufgesetzt wurde. Mich erstaunt, dass gleichzeitig über die doch erhebliche Anzahl von Lehrabbrüchen nicht diskutiert wird.

Junge Menschen haben ein Anrecht auf eine Ausbildung, die ihren Fähigkeiten und Neigungen entspricht. Dabei wird oft vergessen, dass diese Fähigkeiten auch entdeckt und entwickelt werden müssen. Dies geschieht nicht zwingend durch zusätzlichen BO-Unterricht, sondern durch eine Schulkultur, die die individuellen Stärken der Schülerinnen und Schüler wahrnimmt, fördert und dafür sorgt, dass junge Menschen die Entwicklung machen können, die ihnen zusteht.

Als ich selbst zur Schule ging, war das «Niveau P» klar dafür bestimmt, den gymnasialen Zugang zu gewährleisten. Ich hatte eine sehr eindrückliche Sekundarschulzeit. Bildung, intellektuelle, aber auch ganzheitliche Förderung wurde nicht exerziert, sondern gelebt. Im Deutschunterricht lasen wir als erstes Buch C. F. Meyers Schuss von der Kanzel, und ich merkte schnell, dass es noch andere Sprachqualitäten gibt als jene, die ich von unzähligen TKKG-Büchern kannte. Ich realisierte, dass Sprache je nach Herkunft ganz unterschiedlich ausgeprägt sein kann und im Extremfall wie neu erlernt werden muss. Schliesslich kann man auch nicht von einer Person aus Norddeutschland erwarten, dass sie Walliserdütsch auf Anhieb versteht. Wir realisierten viele Theaterprojekte, von Loriot bis Max Frisch. Von Letzterem spielten wir im Abschlussjahr das Stück Andorra. Damals verkörperte ich die Rolle des Lehrers – die Kernthemen des Stücks zu Doppelmoral, Faschismus, Gleichschaltung und Ausgrenzung sind mir bis heute in den Knochen geblieben.

Was macht die Qualität eines Gymnasiums aus? Wer eignet sich für das Gymnasium? Ursprünglich war das Gymnasium ein Konzept aus der Antike, das den interessiertesten, intellektuell geschicktesten jungen Menschen eine Ausbildung bieten sollte, die sie befähigt, die Gesellschaft nachhaltig weiterzubringen. Es ging nicht um Geld oder gute Akademikerlöhne, sondern um genau das, was ich in meiner progymnasialen Zeit erlebt habe: anspruchsvolle, ganzheitliche Bildung, die mit der Matura zu einer Studierreife führt, die für die gesamte Gesellschaft relevant ist. Bei der letzten Reform (MAR 95) wurde dieser Haltung noch Rechnung getragen. Durch jüngste technologische Entwicklungen in unserer Informationsgesellschaft ist jedoch die Ausbildung selbständig und kritisch denkender Menschen zunehmend nicht mehr gefragt und akut gefährdet – eine bedenkliche Entwicklung.

Meine akademische Ausbildung hat mich geprägt – und sie prägt auch meine Rolle als Vater. Insofern bekommen unsere Kinder mit mir bereits eine ziemlich intensive Portion an traditioneller Bildung mit, und ich gehöre nicht zu den Vätern, die ihre Kinder zwingend wieder am Gymnasium sehen möchten. Wenn jedoch eines unserer Kinder für sich diesen Weg entdecken sollte, soll es ihn auch gehen können.

Wie eingangs erwähnt, ist im Kanton Baselland ein intensiver Kampf darum entbrannt, wer ein Gymnasium besuchen soll und wer nicht. Dabei stehen nicht persönliche Neigungen im Zentrum, sondern Noten und meiner Meinung nach fragwürdige Vergleichtests. Schülerinnen und Schüler sind zu einem messbaren, steuerbaren Objekt geworden, das aus wirtschaftlichen Gründen so durchs System geschleust werden soll, dass möglichst wenige Mittelschülerinnen und -schüler dabei herauskommen. Bezogen auf die geistige Förderung unserer Jugend scheint mir das problematisch.

Wie bewerten nun Lehrpersonen, die in diesem System unterrichten? Ich hatte vor 40 Jahren das Privileg, noch wirklich gut sein zu dürfen. Heute dürfen Schülerinnen und Schüler im progymnasialen Zug in Baselland nicht mehr allzu gut sein, weil man ja die Gymnasialquote senken möchte. Das führt gemäß meiner Beobachtung in Prüfungssituationen zu folgendem Phänomen, das ich bildhaft beschreiben möchte:

Wie löst man die Aufgabe „1 + 1“? Ganz einfach: indem man „1 + 1“ zusammenzählt. Jedes Kind weiss, dass das zwei ergibt. Nun dürfen die Kinder jedoch keine guten Noten haben, und die Lehrperson muss sich überlegen, wie sie die eigentlich einfache Aufgabe so stellen kann, dass sie nicht alle lösen können. Das könnte ungefähr so aussehen:

„Auf einem Tisch steht ein Ei. Das Ei hat fünf verschiedene Farben, da es ein Osterei ist. Es wurde vor zwei Tagen gekocht und zusammen mit drei anderen aus dem Hühnerstall geholt. Nun kommt die Mutter und legt ein zweites Ei auf den Tisch. Der Tisch hat vier Beine, und unter dem Tisch liegen fünf weitere Ostereier, die unter einer Decke versteckt sind. Die Mutter kocht in der Küche gerade weitere vier Eier, und der Vater hat bereits eines gegessen. Gestern waren es in der Küche insgesamt 12 Eier, heute sind es nur noch 4. Wieviele Eier stehen auf dem Tisch?“

Mit dieser raffinierten Fragestellung wird aus einer Mücke ein Elefant gemacht. Die im Grunde einfache Operation „1 plus 1“ wird in eine pseudo-anspruchsvolle Frage verpackt, um zu verhindern, dass sie alle richtig lösen können.

Was macht das mit den Schülerinnen und Schülern? Es wird diejenigen geben, die brav gelernt haben, dass sie „1 + 1“ zusammenzählen können müssen. Diese werden ziemlich schnell die Lösung „zwei“ hinschreiben. Nun gibt es aber auch solche, die ihr Gehirn nicht einfach ausschalten können und sich fragen: „Was soll diese Aufgabe?“, „Das kann ja unmöglich nur die simple Aufgabe ‚1 + 1‘ sein, oder?“, „‚1 + 1‘ ist ja einfach, aber das hier wirkt kompliziert.“ Diese werden die Aufgabe falsch lösen, obwohl sie im Grunde genau wissen, dass „1 + 1“ zwei ergibt.

Aus diesen Gründen halte ich es für problematisch, Mittelschulzugänge nur über Noten regeln zu wollen. Die Bewertungsrealitäten sind in den Schulklassen zu unterschiedlich. Vielmehr sollte die Eignung für die Mittelschule über ein Vorgehen ermittelt werden, das sorgfältig Entwicklungen ermöglicht, Potenziale entdeckt, unterstützt und denjenigen den Zugang gewährt, die sich wirklich für die gymnasiale Ausbildung eignen – und nicht nur „1 + 1“ zusammenzählen können.


Fazit:

Die Diskussion über Mittelschulzugänge darf nicht nur auf Noten und Quoten reduziert werden. Lehrabbrüche und individuelle Entwicklungswege müssen ebenso in den Blick genommen werden wie das eigentliche Ziel von Bildung: junge Menschen in ihren Fähigkeiten zu fördern und zu selbständig denkenden Persönlichkeiten heranwachsen zu lassen. Prüfungs- und Zugangskulturen, die aus einfachen Aufgaben künstlich komplizierte Hürden machen, verfehlen dieses Ziel. Entscheidend ist nicht, ob jemand „1 + 1“ auswendig aufsagen kann, sondern ob Potenzial, Neugier und Eignung für eine gymnasiale Ausbildung erkennbar sind. Nur so bleibt das Gymnasium ein Ort echter Bildung – und nicht bloss ein Filterinstrument.


 
 
 

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