Kürzlich sagte mir eine gute Bekannte: "Eigentlich bist du ja eine Generation vor mir zur Welt gekommen...". Komischerweise betrug jedoch unser Altersunterschied bloss sechs Jahre. Nach einigen Nachforschungen habe ich dann herausgefunden, dass ich, 1974 geboren, klar noch zur sogenannten Generation x gehöre, während mein Gegenüber sechs Jahre später zur Welt gekommen der Generation y viel näher stand als ich. Als ich zwanzig Jahre alt war, gab es noch kein Handy und Internet. Unsere ersten Erfahrungen am Computer machten wir mit dem "Commodore 64", der 1982 als einer der ersten Personalcomputer für den Heimgebrauch verkauft wurde. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie man nach dem Einlegen der Diskette, den Ladevorgang des Diskettenlaufwerks mit Befehlen in Programmiersprache auslösen musste. Die Grafik war aus heutiger Sicht miserabel. Nur wenige Jahre später wuchsen Kinder teilweise bereits im Jugendalter mit Internet und später mit Handy auf. Trotzdem habe ich neuere, technische Entwicklungen immer aktiv mitverfolgt und mir teilweise auch derart angeeignet, dass ich mich deswegen nicht unbedingt alt fühle.
Mit 46 Jahren liege ich heute in der Schweiz 4 Jahre über dem Altersmedian. Das heisst, dass über die Hälfte der Schweizerinnen und Schweizer heutzutage jünger sind als ich. Natürlich würden die restlichen 40 Prozent sagen: "Du bist nicht alt, aber halt auch nicht mehr unbedingt jung...". Anfangs des 19. Jahrhunderts betrug die Lebenserwartung in Europa weniger als vierzig Jahre. Wolfang Amadeus Mozart starb im Alter von 35, Felix Mendelssohn im Alter von 38 Jahren. Vor 150 Jahren hätte ich also in meinem Alter schon zur Generation der Senioren gehört. Als Vater von drei noch jüngeren Kindern fühle ich mich jedoch noch überhaupt nicht in der meist etwas ruhigeren Seniorenphase angekommen. Selten war ich zeitlich und persönlich derart stark gefordert wie in den letzen paar Jahren. Nun kommt unsere jüngste Tochter in den Kindergarten. Mal schauen, ob sich damit die Situation etwas beruhigt.
Schon etliche Male ist mir zum Thema Alter der Satz begegnet: "Man ist so alt, wie man sich fühlt." Viele Zeitgenossinnen und Zeitgenossen halten daher mit überschwänglicher Aktivität, Faceliftings und Fitness- und Ernährungsplänen an der ewigen Jugend fest. Haben wir in unserer Gesellschaft das Älterwerden verlernt und verdrängt? Was ist so schwierig daran, zu seinem Alter zu stehen und die Qualitäten jeder Lebensphase mit ihren besonderen Eigenheiten so zu nehmen, wie sie sind?
Wir leben zum Glück in einer Welt, in der wir auf Grund bewährter Vorsorgesysteme alt werden dürfen und können. Oder war das einmal? Könnten uns Coronakrise und Klimaerwärmung einen Strich durch die Rechnung machen? Eine ältere Frau sagte mir kürzlich: "Vielleicht ist es ja gar nicht so schlecht, wenn sich die Alterspyramide in Zukunft wieder mehr Richtung jüngere Generationen ausgleicht." Ich habe ihr geantwortet: "Das kannst nur du, als direkt betroffene, ältere Person mit gutem Gewissen so sagen."
Laut Medienberichten haben bereits 60% aller Bewohner von Mumbai Antikörper des Coronavirus entwickelt. Eine Unterdrückung des Virus wäre in den Wohnsituationen, wie sie dort vorzufinden sind, gar nicht möglich gewesen. Die Sterblichkeit ist dabei nicht höher wie in anderen Ländern. Deutet das darauf hin, dass das Virus gar nicht so gefährlich ist, wie es uns die Medien jeden Tag vorbeten? Mitnichten; für eine Wohlstandsgesellschaft mit hohem Anteil an älteren Menschen ist das Virus wesentlich gefährlicher als in Mumbai, wo der Altersmedian gerade mal bei 28 Jahren liegt.
Der Theaterregisseur Milo Rau hat kürzlich etwas zynisch gemeint: "Das Coronavirus ist das Virus des älteren, westlichen Mannes." Er hat zumindest statistisch im Ansatz recht; und es sind denn auch auffallend oft die älteren, westlichen Männer, die sich in unseren Kreisen zu umsichtigen oder weniger umsichtigen Krisenmanagern mausern.
Ich bin als mittelalterlicher Familienvater noch recht jung und zum Glück durch das Virus zumindest statistisch gesehen nicht stark gefährdet. Das heisst jedoch gleichzeitig, dass auch ich im Extremfall mit viel Pech am Virus zu Grunde gehen könnte. Wenn ich zusätzlich daran denke, dass viele Menschen in den Favelas von Mumbai mein Alter gar nicht erreichen, viel früher Kinder haben und häufig nach vierzig im Erlebensfall bereits Grosseltern werden, fühle ich mich jung in einer alten Welt und alt in einer jungen Welt zugleich.
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